Karl Bulling an der Ostfront

In friedlichen Schützengräben

Anfang März 1915 wird Karl Bulling an die Ostfront zum Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 259 versetzt. Zu dieser Zeit ist es an der Ostfront nach mehreren großen Schlachten relativ ruhig, wodurch Karl zwei friedliche Monate erlebt. Karl kämpfte lediglich gegen die Anstrengungen der Märsche und die Monotonie in den Stellungen an. Gegen seine Fußschmerzen schickte die Familie ihm Salben und Franzbranntwein. Wenn ihm langweilig war vertrieb er sich die Zeit beim Kartenspiel mit den Kameraden oder widmete sich dem Briefwechsel mit seiner Familie.

Karl erlebte die Front daher eher als einen Ort der Unannehmlichkeiten. Feldküche, Feldpost und Pakete funktionierten weniger regelmäßig als noch im Ausbildungslager in der Heimat. Wenn er jedoch mehrere Pakete mit „Liebesgaben“ von seiner Familie bekam, erlebte er auch an der Front ein Gefühl von Überfluss. Erst einen Monat vor Karls Verlegung an die Ostfront wurde es den Soldaten der deutschen Armee sowie deren Familien gestattet, Pakete mit bis zu 50 kg per Feldpost zu verschicken. Neben Lebens-und Genussmitteln sowie Wäsche wurden auch Materialien für ärztliche Behandlungen geschickt. Ärzte gab es, aber an Material mangelte es. So erbat sich Karl Gummistoff für eine Zahnbehandlung.

„Ich schwelge jetzt also im Überfluß“

Auszug aus einem Brief von Karl Bulling an seine Eltern vom 10. April 1915 aus Kollodzeygrund, ehem. Ostpreußen.

„Kolodzeygrond, 10. April 1915

Liebe Eltern!

Gestern abend und heute nachmittag habe ich eine Menge Pakete bekommen und schwelge jetzt in Genüssen. Von Großvater habe ich 2 halbe Pfund Pakete Butter bekommen und von Tante Ida selbst gemachte herrliche Wurst. Schwester Elli schickt noch wundervolle Bonbons. Was ich von Euch alles bekommen habe, kann ich gar nicht alles herzählen; ich habe mich ganz mächtig dazu gefreut. Die Wäsche kam gerade rechtzeitig, denn gestern nachmittag hatte ich die schmutzige weggeschickt. Nur seidene Wäsche möchte ich noch haben, die hat sich gegen Läuse sehr bewährt. Heute bekam ich Kognak, Apfelsinen, Pflaumen, Schokolade und Annelieses Ostereier, die ich gleich mit Duschinski [Kamerad von Karl Bulling, Anm.] zusammen verzehrt habe, ebenso die 3 Apfelsinen. Gestern erhielt ich außer der Wäsche noch // Apfelsinen, Wurst, Karte, Formamint, Karte, Zucker, eine Menge Schokolade, Honigkuchen, Strümpfe, Lichter etc. Ich schwelge jetzt also im Überfluß, denn man kann hier auch was kaufen und Duschinski hat vorgestern abend gleich 3 Pfund Zucker, Lichter, Streichhölzer und Schmalz besorgt. [...]“

Die Schlacht von Schaulen und Gefangennahme

Ab Frühling 1915 starteten die verbündeten Armeen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns drei große Angriffsoperationen. Karls Einheit wurde im Norden der Ostfront beim Einmarsch in das litauische Gebiet des Zarenreichs eingesetzt. Hier nahm er an der nahezu kampflosen Eroberung Schaulens teil und hat in einer verworrenen Situation seine ersten und einzigen Schüsse im Krieg abgegeben. Ein Brief beschrieb den systematischen Vormarsch: marschieren, ausschwärmen, vorrücken, sammeln, marschieren - Dorf für Dorf und bis nach Schaulen hinein. Als Rache für den russischen Einmarsch in Ostpreußen im Jahr zuvor plünderten die Soldaten nun in Dörfern und Städten, da sie irrtümlich glaubten es mit „echten“ Russen zu tun zu haben. Tatsächlich bestand die Bevölkerung aus „deutschfreundlichen“ Juden bestand, welche sich eigentlich über das Erscheinen der Eroberer freuten. Der Grund dafür lag darin, dass russische Soldaten einen Sündenbock für die erlittenen Niederlagen suchten. Sie glaubten sich von der jüdischen Bevölkerung im westlichen Zarenreich verraten.

Der kampflose Rückzug der russischen Truppen war trügerisch. Als diese zum Gegenangriff übergingen, wurde der Großteil von Karls Regiment während ihres Rückzugs am 12. Mai 1915 überraschend in ein Gefecht verwickelt. Karls Kompanie wurde dabei völlig überrumpelt und ohne Gegenwehr gefangengenommen. Die Eltern schrieben in den folgenden Tagen weiterhin Briefe an Karl, welche mit dem Vermerk „vermisst“ an sie zurückgeschickt wurden. Die Eltern erhielten von der Armee erst einen Monat nach Gefangennahme eine schriftliche Benachrichtigung über diese Vorgänge.

Eine Ironie des Schicksals

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Karls Vater Heinrich Bulling ihm nichts ahnend schrieb, dass der Krieg nicht enden sollte, bevor nicht der Suez-Kanal erobert sei. Das osmanisch-deutsche Bündnis scheiterte daran wiederholt und Karls Schicksal lag nun auch in fremden Händen. Gedanken wie diese waren in der Heimat weit verbreitet und stießen bei den Soldaten meist auf Unverständnis. Sie belegen wie unterschiedlich in der Heimat und an der Front der Krieg wahrgenommen wurde. Auch der Erfahrungsaustausch über die Feldpost hat daran nicht viel geändert. Karl selbst schrieb in seinen Briefen nie über den Sinn des Krieges oder über erstrebenswerte Kriegsziele. Seitdem er an der Front im Einsatz war, erhoffte er stets lediglich ein baldiges Ende des Krieges.